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Brüllender Tiger

Corona – Der innere „Säbelzahntiger“

Jens Olaf Koch

Der innere Corona-Säbelzahntiger, den Samira El Ouassil hier im SPIEGEL beschreibt, der gerade in uns Menschen oft die Diskussionsherrschaft übernimmt: Ich kenne ihn gut aus den letzten Wochen und Monaten.

Wir befinden uns in einer Situation, die an tiefste biologische Programme rührt und damit nicht nur neurologisch und evolutionär vorgeprägte Verhaltensmuster aktiviert, sondern auch auf psychischer Ebene die ganz persönlichen Überlebensstrategien, die sich oft schon (spätestens) ab der Geburt ausbilden.

Bei mir zum Beispiel sind das starke intellektuelle Autonomiebestrebungen: alles über das Virus und die Krankheit lesen, gedanklich möglichst tief durchdringen, nichts glauben, was ich selbst nicht durchdacht habe, mich auf logisch nachvollziehbares Wissen konzentrieren – das ich überwiegend in der Wissenschaft und im abwägend berichtenden Qualitätsjournalismus finde.

Dazu kommt ein großes Misstrauen gegenüber Menschen, die nach meinem Gefühl eigenen Agenden und nicht der Liebe zur Wahrheit verpflichtet sind.

Auch das ein Muster, das bei mir sowohl biologisch angelegt wie entwicklungspsychologisch ausgeprägt wurde: In unserer Familie, speziell bei meiner Mutter, konnte ich mich absolut darauf verlassen, was gesagt wurde.

Der Anschein von Kontrolle

Das ist meine persönliche Art, in dieser Krise den Anschein von Kontrolle aufrecht zu erhalten – was natürlich nicht funktionieren kann. Das heißt: Zur inneren Beruhigung kann es schon beitragen, aber nicht dazu, wirklich Kontrolle – die wir im Leben sowieso nur sehr eingeschränkt haben – zurückzugewinnen oder zu erhalten.

Bei anderen Menschen greifen ihre eigenen, ganz individuellen inneren Muster, die sich ebenfalls „unter Druck“ verstärken. Das führt dann dazu, dass sich einige an Meinungen oder Denkweisen orientieren, die nicht zu meiner eigenen passen. Und der Antagonismus tritt deutlicher zutage als sonst und wirkt – schön im verlinkten SPIEGEL-Beitrag dargestellt – subjektiv gefährlicher und bedrohender.

Damit sind Selbsterkenntnis und Selbstgewahrsamkeit, der Versuch, immer wieder auch inneren Abstand zu seinen eigenen Grundmustern einzunehmen, in der jetzigen Zeit noch wichtiger als sonst.

Aber da es um so existenzielle Themen geht, die auch unsere psychischen Bedürfnisse und Traumata berühren, nicht nur solche wie Krankheit und Tod, sondern auch Kontaktverlust, Einsamkeit, Ausgrenzung, familiäre Verlustängste – deshalb ist es auch eine so ungemein schwierige Aufgabe, sozusagen „neben uns“ zu treten und unsere eigenen Verhaltensmuster anzuschauen.

Trotzdem ist es wichtig, um in anderen Personen nicht Gegner zu sehen, auf die wir die gefühlte Bedrohung durch Virus und Folgen personalisierend projizieren. Und um zu erkennen, dass auch diejenigen, in denen sich ganz konträre Muster verstärken, demselben Mechanismus unterliegen und derselben Angst und Belastung ausgesetzt sind.

Menschsein: Dass Dinge schief gehen

Was oft nicht oder nicht besonders gut klappt. Weil es schwierig ist.

Aber genau das ist auch Menschsein (I): Dass Dinge schief gehen. Dass es schwierg ist. Dass wir den anderen zeitweise als Gegner sehen. Dass wir uns nicht verstehen.

Aber genau das ist auch Menschsein (II): Dass wir uns selbst reflektieren können. Dass wir dadurch wieder freier werden, die Muster überwinden können (und wenn sie uns noch so oft einholen) und wir auch wieder in ein und zu einem Miteinander kommen können.

Ich glaube manchmal, dass diese Krise uns auch das noch einmal zeigen soll: Nicht nur wie verletzlich wir als Menschen biologisch und als Gesellschaft sind, sondern auch, wie verletzlich wir psychisch sind, wie die Bereitschaft zu Gewalt und Kampf in uns allen steckt (was überlebenstechnisch auch seine guten Gründe hat: auch gegen Krankheiten kämpfen wir ja) und wie wir all das auch – immer wieder mal und hoffentlich immer öfter – transzendieren können.

Und vielleicht, ganz vielleicht, weist uns das ein wenig den Weg in eine Zukunft, in der nicht nur äußere und innere Pandemien auf uns warten, sondern auch ein gemeinschaftlich gesichertes Leben auf einem kleinen, nicht überhitzten Planeten, auf dem wir uns alle nicht ganz so verlassen fühlen wie in den heutigen Hundstagen des Virus.

Beitragsbild: Third Idea auf Unsplash

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